… über das Essen von Papier,
ausgerastete Groupies,
die Kuhsprache
und das Zerren in den Saiten.
Volker Wilde: Bandgeschichten können Bandwürmer sein. Wann begann die Geschichte von Art|De Fakt?
Urban Elsässer: art de fucked (unsere ursprüngliche Schreibweise) begann als fucking Independent Rockband. Das muss mindestens 10 Jahre her sein: eine für Musikerverhältnisse astronomische Zeitspanne. Schon bald stellte sich heraus, dass diese Band sich zu einem Laboratorium entwickelte, in dem Freizügigkeit praktiziert wird.
Ein exotischer Platz, eine Art Pufferstaat zwischen den unterschiedlichsten musikalischen Stilen, eigentlich ein Fall für die UNO Friedenstruppe.
Volker Wilde: Wie bist Du auf Ray Federman gestoßen, mit dem Ihr von der ersten CD an zusammen gearbeitet habt?
Urban Elsässer: Ray war ein absoluter Glücksfall. Literat und Entertainer in einer Person. Den entscheidenden Hinweis erhielt ich vom Designer und Herausgeber des Literaturmagazins Chelsea Hotel, Dirk Görtler, dem ich dafür unbedingt noch eines seiner tollen Bilder abkaufen muss (lacht).
Dirk gab mir einige Texte von Ray, die ich vertonte und nach Amerika schickte. Die Reaktion war überwältigend. Schnell war klar, dass wir miteinander touren und nach einigen kleinen mentalen, kulturellen und altersbedingten Adaptionsprozessen haben wir mit unserer ersten Tour [1995, Anm. d. Verf.] einen furiosen Start hingelegt.
Volker Wilde: Liest man alle Bücher von so einem literarischen Koloss, wie Ray Federman es ist, oder wie bereitet man sich auf diesen Herrn Professor als Bandmitglied vor?
Urban Elsässer: Mentale Vorbereitung: Man schaut sich die Gehaltsklasse eines Literaturprofessors an und denkt sich „Da will ich auch hin!“.
Ideelle und musikalische Vorbereitung: Da ich beim Komponieren immer an Songstrukturen denke – einige werden mir das jetzt nicht abnehmen – interessieren mich vor allem die Lyrics von Ray. Ich bin ein leidenschaftlicher Vertreter der Unschärfe. Es gibt sicher die Möglichkeit, sich mit einem Autor in der Breite aller denkbaren Erklärungskonzepte anzunähern.
Da ich schreiben und lesen kann, könnte ich mich stundenlang inhaltlich mit Literatur von Ray auseinandersetzen. Das interessiert mich aber weniger. Da Menschen einfach und komplex zugleich sind, reicht es für mich als Musiker aus, mich für die einfache Seite von Ray zu interessieren. Ich brauche schließlich Zeit zum Üben (lacht).
Den Zufall, die flüchtige Wendung, die kleine Anregung, die nachträgliche Überraschung zuzulassen, das verstehe ich unter Unschärfe. Und da ist mir klar: Art|De Fakt tut Ray gut.
Volker Wilde: Wie machst Du das mit der Musik zum Text?
Urban Elsässer: Um diese Frage zu beantworten, muss ich kurz meine musikalische Sozialisierung verraten. Aufgewachsen in einem Kuhdorf, umgeben von Kuhmusik und einer Kuhsprache, war das Hören von englischen Wörtern ein Genuss. Ich meine damit, dass mich weniger die Semantik der englischen Sprache interessiert hat, sondern mehr der Sound.
Heute noch ertrage ich gewisse emotionale Schlüsselsätze, z.B. „Hast Du mich lieb, Schnuckelchen?“, nur in englischer Übersetzung. Für mich ist die Sprache der Musik eindeutig Englisch; und das auch nach einem Übersetzungstrauma einiger Texte, der von mir hochgeschätzten Byrds.
Ich möchte nicht unbedingt den ganzen Text verstehen, was sowieso bei einem postmodernen Autor vergeudete Liebesmühe ist. Ich bin ganz gut gefahren, mich an Bruchstücke oder Textfragmente zu halten. Oftmals übersetzte uns Ray seine Texte nachträglich, und es ist für mich immer wieder verblüffend festzustellen: es passt!
Volker Wilde: Wie sieht eine Probe mit Ray und Art|De Fakt aus?
Urban Elsässer: Wir alle sind ja talentierte Narzissten. Das heißt, zuerst werden die Claims abgesteckt. Manche machen das subtil, andere sind vorlaut, Ray macht das mit Humor und Charme. Reguläre Probearbeit sollte man sich bei diesem Professor abschminken. Ray ist ein Energiebündel.
Aber dieses permanente Oszillieren von Vorgabe und Improvisation macht die Arbeit mit ihm so spannend. Natürlich sind wir ihm dankbar und erfüllen exklusive Wünsche (lacht):
Mal braucht er eine konkurrenzfähige Fassung eines Jazzklassikers als Soundtrack zur bilingualen Performance – Ludger rührt dann in seiner Jazzpatternkiste. Mal üben wir das euphorische Essen von Gedichten. Ich kann jetzt verschiedene Geschmacksrichtungen von Papier unterscheiden!
Wir machen das alles mit, weil wir an die Weisheit des Alters, Ray ist ja nun mal über 70, glauben.
Volker Wilde: Wie komponierst Du?
Urban Elsässer: Komponieren ist die erfreuliche Seite von Nervosität.
Eine Unruhe, ein intensives Suchen. Das dichteste Erlebnis, das ich kenne. Wenn man einem professionellen Sucher zuhören will, sollte man Coltrane hören. Jazz pur.
Komposition ist die Improvisation mit größeren Einheiten oder Strukturen.
Ich finde, die Unterscheidung zwischen Komposition und Improvisation ist sehr artifiziell. Für mich sind das einfach verschiedene Nervositäts-Level.
Ich bin froh, verschiedene, gleichwertige Zugänge zum Komponieren zu kennen. Ich hatte das Glück, ein sehr geniales Kompositionskonzept eines Jazzmusikers kennenzulernen, dann auch eine sehr ungewöhnliche Sicht auf klassische Musik von einem Komponisten vermittelt zu bekommen und mit der Gitarre, mit dem Klavier und den viel zu schwierigen Sequenzerprogrammen für PC unterschiedliche Instrumente zum Komponieren zur Verfügung zu haben.
Volker Wilde: Art|De Fakt steckt musikalisch in vielen Schuhen: Im Jazz jeglicher Spielart, in der Klassik, im R’n’B, im Electro. Muss man eine Art manuell-samplender DJ-Musiker sein, um mit dieser Vielfalt umgehen zu können?
Urban Elsässer: Jedes künstlerische Handwerk lebt von Klischees, motorischen und auditiven Mustern, die in sich wiederholenden Ritualen inkorporiert werden.
Die faszinierenden Momente sind die, in denen für einen Augenblick die Konditionierung durchbrochen werden kann. Es ist sicher kein Zufall, dass auf der einen Seite ein enorm hohes Ausbildungs-Level bei vielen Musikern vorhanden ist, auf der anderen Seite die Zahl der wegweisenden, mit ein persönlichen Stil überzeugenden Musiker konstant niedrig ist. Es ist natürlich schwierig und mühsam, in einer Artenvielfalt der tolerierten Musikstile sich ständig neu zu definieren.
Im eindeutigen Jazz- oder Pop-Kontext gibt es einigermaßen verbindliche Ausschluss-Kriterien.
Wenn man sich aber frei bewegen will, muss man sich als Musiker regelmäßig neu legitimieren. Und das nicht nur gegenüber Veranstaltern oder Zuhörern, sondern natürlich auch Band-intern. Das bedeutet harte Arbeit an der eigenen Toleranz.
Volker Wilde: Du hast nicht nur Musik studiert, sondern auch Psychologie. Ändert das Wissen um Denk-und Fühlvorgänge Deine musikalische Arbeit?
Urban Elsässer: Natürlich bekommt man bei der Beschäftigung mit der Psychologie Begriffe für Phänomene vermittelt, die man vorher nicht verbalisieren konnte.
Das kann einerseits zur Differenzierung des Denkens und Fühlens beitragen, andererseits im Sinne der Rationalisierung und Intellektualisierung gerade für intelligentere Leute das geschickteste Ablenkungsmanöver sein.
Was ich an der Musik liebe und die Psychologie nicht leisten kann, das ist die Direktheit, die Intensität der Erfahrung. Die Psychologie bietet sicher interessante Ansätze im Bereich der Lernforschung, einem Gegenstandsbereich der empirischen Forschung, der mich sehr anspricht. Lernen empfinde ich als Privileg – und welches Gebiet des menschlichen Erlebens ist ein großzügigeres Lernfeld als die Musik?
Volker Wilde: Wie stellst Du Dir die Zukunft von Art|De Fakt vor? Unter Musikjournalisten hört man, dass es Kollaborationen mit Christian Brückner (der deutschen Synchronstimme von Robert de Niro) geben soll – nachdem Dichterpapst Ernst Jandl, der schwer an euch interessiert war, im vergangenen Jahr verstorben ist.
Urban Elsässer: Ich möchte mit dieser Band berühmt werden. Stell Dir vor: eine Avantgarde-Jazzgroup mit völlig ausgerasteten Groupies (lacht)!
Lass mich „Erfolg“ spezifizieren. Für mich bedeutet Erfolg für Art|De Fakt, dass sich das Projekt finanziell trägt, wir musikalisch weiterkommen, viel spielen und ein Netzwerk von interessierten Musikern und Zuhörern aufbauen. Das wären die Basics ähnlich wie Essen, Trinken und Schlafen im normalen Leben.
In unmittelbarer Zukunft möchte ich die CD „Surfiction Jazz 3“ produzieren und einmal im Jahr mit dieser Band in die USA fahren.
Sicher ist es auch wichtig, an die Zeit nach Ray zu denken. Autoren zu suchen, mit denen ich zusammenarbeiten kann, die hungrig nach vorne schauen.
Schade, dass wir nicht mehr mit Ernst Jandl zusammenarbeiten konnten. Er bleibt mir als imponierende Erscheinung, als ein alter Mann in Erinnerung, der bei einem Konzert von Art|De Fakt auf einmal hinter mir auf der Bühne stand, sich einen Stuhl schnappte und sich das restliche Konzert aus der für ihn zustehenden Position auf der Bühne zustimmend verfolgte.
Eine Zusammenarbeit mit bekannten Sprecherstimmen, wie eben Christian Brückner, wäre sicher eine Bereicherung.
Volker Wilde: Vielen Dank für das Gespräch.